Vormoderne Kleinepik basiert auf Bausteinen, die wesentlich kompakter sind als die aus ihnen zusammengesetzte Erzählung: Motivische Schemata, argumentative Topoi, konsensstiftende Spruchformen oder performative Sprechakte und Gesten treten, sich überlagernd und ineinandergreifend, in einer epischen Einheit zusammen und erlauben zugleich die Zerlegung des Narrativs in nicht-narrative Segmente und Denkfiguren. Jene Bausteine sind nicht als Originale zu begreifen, sondern vielmehr als Fundstücke aus einem Repertoire mobiler sprachlicher Formeln und mentaler Vorstellungen. Sie existieren als Varianten wiedererkennbarer Typen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten und lassen sich mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Repertorien (Motivindizes der Folktale- und Exemplaforschung, Fabelkataloge, Lexika und Handbücher der Gnomik sowie des Sprichwort- und Sentenzengebrauchs) in diachronen Reihen anordnen. 

So systematisiert, können diese Bausteine analytisch in zweierlei Richtung genutzt werden: Entweder führen sie in ihren Überlieferungskontexten paradigmatisch zu konkreten Gebrauchssituationen zurück. Deren Kartierung erlaubt es, anhand der Einbindung eines bestimmten Erzählbausteins in eine konkrete Geschichte aufzudecken, welche latenten Probleme unter dem Mantel des Erzählens durchgearbeitet werden. Oder sie können syntagmatisch den Blick auf die jeweiligen Kombinationen von Bausteinen im Wiedererzählen desselben Stoffes lenken und damit auf ganz unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten, die das angewandte Kalkül im Wiedergebrauch bis zur völligen Inversion seiner Wirkung umwerten können. So wird sichtbar, dass es keine Realisationen gibt, die den Status einer ‚Urszene‘ oder ‚Geburtsstunde‘ beanspruchen könnten; stattdessen handelt es sich bei den Bausteinen kleinepischen Erzählens um narrative Gefüge, die sich an Keimen auskristallisieren, um über ganz heterogene Funktionalisierungen ihr imaginäres, rationales und mnemonisches Muster und dessen Wirkkraft über lange Zeiträume hinweg zu erhalten und für Aktualisierungen zu präparieren.

Solche Gefüge lassen sich als „temporal communities“ beschreiben: Sei es, dass sie sich wie die Warburgschen Pathosformeln als Stoffkomplexe durch die Zeit bewegen, sei es, dass sie in Sammlungen verwandter Formen thesauriert werden – stets geht es ihnen um die Fähigkeit, ihr Überleben zu sichern, sich gegen das Vergessen, gegen materielle Zerstörung, gegen konkurrierende Narrative durchzusetzen, indem sie sich in immer neue Kontexte einschreiben und aus der Spannung von Spruch und Widerspruch ihre Wirkung entfalten.

Entsprechend gehört es zur Aufgabe der Kleinepikforschung, sich über die Analyse von Typenreihen, Variantenbildung, Umschrift- und Umwertungsprozessen Aufschluss über das Potential kleiner Formen zu verschaffen. Das kann nur durch einen komparatistischen Ansatz gelingen: durch vergleichende Lektüren, die über Sprachgrenzen hinweg, transkulturell, transepochal und transdiskursiv angelegt sind. Das Konzept der „temporal communities“, übertragen auf wandernde Stoff- und Motivverbünde, kann hier produktiv gemacht werden und traditionelle Forschungsansätze grundsätzlich revidieren, die nach „sources and analogues“ fragen und Quellen oder Einflüsse im Horizont eines rein linearen Zeit- und Traditionsverständnisses benennen wollen. In diesem Zusammenhang drängen sich eine Reihe von Fragen auf, mit denen sich der Workshop auseinandersetzen soll:

  1. Wo und wie bilden sich jene textuellen ‚temporal communities‘ aus?
  2. Wie lassen sich die divergierenden Aspekte der Gemeinschaftsbildung, ihre textuelle und ihre soziale Dimension, miteinander vermitteln?
  3. Welche Rolle spielt dabei die durchaus problematische, zugleich aber unentrinnbare Dichotomie von Inhalt und Form bzw. diejenige von Text und Kontext?
  4. Welche Rolle spielt die Materialität der Überlieferung bei der Reihenbildung, etwa die Existenz von Sammelhandschriften oder die Konstruktion von Erzählrahmen? Dazu können auch andere, pragmatische Ordnungsdimensionen zählen wie Skriptorien, Bibliotheken, Offizinen oder städtische Gruppen- und Interessenbildung etc.
  5. Wieweit und in welcher Form spiegelt sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Reihenbildung ein Bewusstsein veränderter literarischer Optionen und Komplexitäten (etwa in Erzählerkommentaren, Paratexten, Manuskript- oder Druck-Layout, Illustration etc.)?
  6. Welche Bewegungsmuster und Strategien der Proliferation, des Überdauerns oder des „Nachlebens“ lassen sich über die longue durée der Tradition hinweg beschreiben? Gibt es innerhalb solcher Bewegungsmuster Erklärungen für Phasen anhaltender Latenz und plötzlicher Emergenz der genannten kleinepischen Kalküle, Erzählkerne oder Plots?

Im geplanten Workshop, der vom 18.03. bis zum 20.03.2021 an der HU Berlin stattfinden soll, gilt es, diese Fragenkomplexe an konkreten Beispielen zu diskutieren, damit die kleinepischen ‚temporal communities‘ auf induktivem Wege fassbar und beschreibbar gemacht werden. Der Workshop bringt nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Literatur- und Kulturkreise zusammen, sondern verfolgt auch das Ziel, mit der wissenschaftlichen Gesellschaft ‚Brevitas‘ und dem Graduiertenkolleg ‚Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen‘ der HU Berlin zwei junge Institutionen zur Erforschung der Kleinepik zusammenzuführen und nachhaltige Forschungskooperationen gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs vorzubereiten. Der Workshop findet in Kooperation mit dem Exzellenzcluster der FU Berlin ‘Temporal Communities’ im Rahmen der Berliner University Alliance statt.

Der Workshop dient zudem der Vorbereitung des zweiten Bandes der Schriftenreihe ‚Brevitas‘, die als Sonderreihe der BmE lanciert ist. Zu diesem Zweck bitten wir Mitglieder von ‚Brevitas‘, des Exzellenzclusters ‚Temporal Communities‘ und auch nicht-assoziierte Interessentinnen und Interessenten um die Einsendung eines Abstracts für einen Beitrag im Band ‚‚Temporal Communities‘ in der vormodernen Kleinepik‘. Diese Abstracts werden den Teilnehmenden des Workshops zugänglich gemacht und dienen – neben ausgewählten Primär- und Sekundärtexten – als gemeinsame Diskussionsgrundlage. Auf ihrer Basis erfolgt wiederum eine Auswahl, die in 10-minütigen Impulsvorträgen für den Workshop ausgeformt und dort ausführlich diskutiert werden. Ziel des Workshops ist es, in der gemeinsamen Arbeit an den Fragestellungen des Calls und den diversen Ansätzen der Abstracts einen Sammelband zu kleinepischen ‚Temporal Communities‘ vorzubereiten, der sich auf diesem Wege durch eine größere thematische Kohärenz auszeichnen soll, als dies bei einem herkömmlichen Tagungsformat der Fall sein könnte. Besonders möchten wir zu fächerübergreifenden Koautorschaften aufrufen, um die für das Thema wichtige transdisziplinäre Expertise zu fördern.

 

Bitte reichen Sie bei Interesse bis zum 31.08.2020 (verlängerte Frist) folgende Unterlagen ein (Silvan.Wagner@uni-bayreuth.de):

  • Ein Abstract für einen wissenschaftlichen Aufsatz zu einer Textreihe aus dem Bereich der vormodernen Kleinepik (max. eine Seite)
  • Ein Datenblatt zur verwendeten Primärtextbasis, das folgende Fragen möglichst prägnant beantwortet:
    • Welche Texte bilden die Textreihe?
    • Auf welcher Ebene findet die Reihenbildung statt; inwiefern ist die Primärtextbasis eine Reihe?
    • Was ist das eigene Forschungsinteresse, das an diese Textreihe angesetzt wird?

Die Struktur des Datenblatts ist zugleich ein Gliederungsvorschlag für die 10-minütigen Impulsvorträge. Nach Möglichkeit sollen für die ausgewählten Vortragsdiskussionen auch die jeweiligen Textreihen allen Workshopteilnehmenden zur Verfügung gestellt werden.

Reise- und Übernachtungskosten der Beitragenden werden übernommen.

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